Harvard-Philosoph über die Versäumnisse von Clinton und Obama

»Die Demokratische Partei hat Trump den Weg bereitet«

Donald Trump habe die USA zugrunde gerichtet – so lautet die Analyse seiner Gegner. Dem US-Intellektuellen Michael Sandel ist das zu einfach. Einer der meistgelesenen SPIEGEL+-Artikel des Jahres.

29.12.2020

Sein Ton ist immer freundlich, seine Ausstrahlung ist die eines zurückhaltenden Gentlemans. Gleichzeitig hat er diese Präsenz, die so typisch ist für US-amerikanische Topleute, ob sie nun in der Politik oder an Universitäten zu finden sind. Seine Argumentation ist scharf und nicht selten anklagend.


Sandel, 67 Jahre alt, lehrt als Philosophieprofessor an der US-Eliteuniversität Harvard. Seine Vorlesungen sind auch als »Ted Talks« im Internet abrufbar. Sein neues Buch heißt »Vom Ende des Gemeinwohls«. Es erscheint nicht ohne Grund in der Endphase des amerikanischen Wahlkampfs: Es handelt – natürlich – von US-Präsident Donald Trump, von dessen Vorgänger Barack Obama, auch von Trumps Herausforderin im vorigen Wahlkampf, Hillary Clinton, und deren Mann Bill, dem früheren Präsidenten.

Sandel macht Schuldige ausfindig für die Spaltung der Gesellschaft der USA und die Spaltung der Gesellschaften so vieler Länder, auch Deutschlands. Im Zentrum seiner Anklage aber steht nicht Trump. Sandel zielt auf die liberalen Kräfte: die Demokraten in seinem Land, die Sozialdemokraten in Europa.

SPIEGEL: Professor Sandel, Leserinnen und Leser haben sich gerade daran gewöhnt, dass aus den USA in schnellem Takt Bücher mit immer demselben Tenor erscheinen: Trump ist gefährlich, Trump ist dumm, Trump ist an allem schuld. Sie aber rücken in Ihrem neuen Werk Trumps Gegner in den Vordergrund, die Demokraten, und machen sie für die Misere der amerikanischen Gesellschaft verantwortlich. Das ist, nun ja – überraschend.

Sandel: Um eines klarzustellen: Mein Buch liefert in keiner Weise eine Entschuldigung für den Schaden, den Donald Trump der amerikanischen Gesellschaft und Politik zufügt. Er hat die rassistischen Spannungen verstärkt, er hat all die Spaltungen, die es vor seinem Amtsantritt bereits in der Gesellschaft gegeben hat, vertieft. Aber ich versuche zu zeigen, wie ihm die Demokratische Partei mit Bill Clinton, Barack Obama und Hillary Clinton den Weg bereitet hat.


SPIEGEL: Sie argumentieren, die Demokraten hätten eine »Ethik des Erfolgs« etabliert und damit frühere Wähler, darunter auch Arbeiter, gegen sich aufgebracht. Was ist gegen Leistungsdenken einzuwenden? Die Botschaft »Du kannst es schaffen, wenn du willst« war immer schon Teil des amerikanischen Versprechens.

Sandel: Es stimmt schon, die Demokraten haben dieses Versprechen aus einem guten Impuls heraus wiederholt: nämlich den Menschen einen Weg aus der Ungleichheit zu weisen, die sich mit der Globalisierung verschärft hat. Sie setzten auf universitäre Bildung als Mittel für den Aufstieg. Das lässt aber die halbe Bevölkerung außen vor. Inzwischen haben wir einen gnadenlosen Wettlauf um Plätze an den besten Universitäten, um die besten Noten, und bei Eltern sehen wir eine Epidemie der Überfürsorge, weil sie die Angst umtreibt, ihre Kinder könnten den Anschluss verlieren. Die Vorstellung, man hätte sein Schicksal selbst in der Hand, ist inspirierend, kann aber auch kränkend sein vor allem für diejenigen, die es eben nicht schaffen. Trump hatte dafür ein Gespür.

SPIEGEL: Die Entwicklung des Elitedenkens, das Sie beschreiben, ist aber nicht nur den Demokraten zuzuschreiben.

Sandel: Das stimmt. Der Wendepunkt liegt weit zurück. In den Achtzigern hatten US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher den freien Markt und die Globalisierung befördert. Im Lauf der Neunziger traten Bill Clinton als US-Präsident, Tony Blair als Premier Großbritanniens und Gerhard Schröder als deutscher Kanzler an – alles Vertreter von Mitte-links-Parteien. Sie akzeptierten die Prinzipien ihrer konservativen Vorgänger, die da lauteten: Die Marktmechanismen sind das wichtigste Mittel, um das öffentliche Wohl zu finanzieren. Ihr Marktglaube war weicher als der von Reagan und Thatcher, und sie versuchten, Auffangnetze für diejenigen zu knüpfen, die der Markt zurückließ, aber den Marktglauben selbst hinterfragten sie nicht.

SPIEGEL: Was hätten sie tun sollen?

Sandel: Mehr Demut zeigen.

SPIEGEL: Demut?

Sandel: Ja, denken Sie an Hillary Clintons Wort von den »Bedauernswerten«. Sie meinte damit im letzten Wahlkampf Trumps Wähler. Da zeigte sich eine Arroganz gegenüber den weniger Gebildeten. Obama sprach über Menschen, »die sich an Waffen und die Religion klammern«. Die Liberalen betonen, dass gesellschaftlicher Aufstieg auf Verdienst und Leistung beruhe, aber wir lösen das Versprechen ja gar nicht ein. Natürlich muss man harte Prüfungen bestehen, um etwa in Harvard aufgenommen zu werden, aber die einen werden ihre ganze Kindheit und Jugend über darauf vorbereitet, mit Hockeystunden, Klavierunterricht, Sprachkursen, und die Eltern zahlen das. Andere Eltern aber können sich solche Investitionen überhaupt nicht leisten. Gute Leistungen hängen also stark vom familiären Hintergrund und einer gehörigen Portion Glück ab. Sich das klarzumachen bedeutet, Demut zu entwickeln und sich einzufühlen in diejenigen, die weniger Glück hatten als wir.

SPIEGEL: Obama war der erste schwarze Präsident der USA. Den Vorwurf, einer weitgehend weißen Elite das Wort geredet zu haben, würde er sicherlich von sich weisen.

Sandel: Er hätte auch Argumente. Obama und Bill Clinton könnten sagen: Wir haben angeboten, die Arbeiter besser abzusichern, haben eine allgemeine Krankenversicherung konzipiert – die Republikaner waren dagegen. Wir haben für mehr Kinderbetreuung gesorgt – die Republikaner waren dagegen. Wir haben für eine Steuerpolitik gekämpft, die den Interessen der Mittelklasse entgegengekommen wäre – die Republikaner aber haben Steuern für Millionäre und Milliardäre reduziert. Nun jedoch müsste man Clinton und Obama fragen: Ja, warum hat Trump dann gewonnen? Die Demokraten waren schockiert, als das passierte, sie hatten nicht wahrgenommen, dass die hässlichen Gefühle, die die Anhänger des Populismus umtreiben, mit legitimen Klagen verschränkt sind. Es geht den Anhängern Trumps nicht nur um Löhne und Arbeitsplätze, sie fühlen sich gedemütigt im moralischen, im kulturellen Sinne durch einen Mangel an Wertschätzung.


SPIEGEL: Wenn sich die Anhänger Trumps gekränkt fühlen, gedemütigt von der Elite – war es dann besonders unerträglich für sie, dass es ein Schwarzer an die Staatsspitze geschafft hat und mit Hillary Clinton beinahe eine Frau?

Sandel: Rassismus und Sexismus spielten sicherlich eine Rolle. Trump macht frauenfeindliche Aussagen und offen rassistische Bemerkungen. Aber vergessen wir nicht, dass Obama zweimal gewählt wurde und Obama-Wähler zu Trump wechselten. Sexismus hat bei Hillary Clintons Wahlniederlage eine Rolle gespielt, aber eben auch ihre Verbindung zu den leistungsbewussten Eliten, die auf Arbeiter herabzuschauen schienen. Und bei Trump hatten sie das Gefühl eben nicht.

SPIEGEL: Woran machen Sie fest, dass besonders die Demokraten elitär denken?

Sandel: Die Demokratische Partei stand früher an der Seite von Farmern und Arbeitern gegen die Privilegierten. Als Hillary Clinton auf ihre Präsidentschaftskandidatur zurückblickte, rühmte sie sich, an Orten gewonnen zu haben, die für zwei Drittel des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts stehen. Wahlstudien haben gezeigt, dass die Unterstützung für Trump übrigens am besten an der Bildung und nicht am Einkommen vorhergesagt werden konnte. Unter Wählern mit vergleichbarem Einkommen stimmten höher Gebildete für Hillary Clinton, weniger Gebildete stimmten für Trump.

SPIEGEL: Barack Obama hatte seine arroganten Momente. Aber ihm fehlte es nicht an Herzensbildung, am Wunsch und auch an der Fähigkeit, Spaltungen zu überwinden. Sie schreiben auch über seine Rede bei der Trauerfeier in Charleston im Jahr 2015, neun Mitglieder einer schwarzen Gemeinde waren während einer Bibelstunde einem Anschlag zum Opfer gefallen. Er würdigte die Trauer der Angehörigen und sang dann »Amazing Grace«.

Sandel: Ja, keine andere politische Figur meiner Lebenszeit konnte sich so klar gegen ethnische Diskriminierung aussprechen. Ich denke, das Urteil in der Geschichte über ihn wird positiv sein, und zu Recht, denn er war ein inspirierender Anführer. Als er 2008 antrat, hat er eine moralische und zivilisatorische Hoffnung geweckt, die wir jahrzehntelang so nicht gekannt haben. Aber 2008 war auch der Höhepunkt der Finanzkrise. Und in Fragen der Wirtschaft akzeptierte er eine neoliberale Form der Globalisierung. Er hätte die Finanzindustrie reformieren müssen. Aber er rettete die Banken, ohne sie für ihr unverantwortliches Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen, und tat wenig für die gewöhnlichen Bürger, die ihre Häuser verloren hatten. Anhaltende Verärgerung über den finanziellen Rettungsplan fachte eine Politik des Protests an – auf der Linken die Occupy-Bewegung und die Kandidatur von Bernie Sanders; auf der Rechten die Tea-Party-Bewegung und die Wahl Trumps.

SPIEGEL: Wie blicken Sie auf sich? Sie sind als Harvardprofessor Teil der Elite.

Sandel: Es stimmt, ich schreibe kritisch über Eliten und die Leistungsidee, da ich das alles selbst kenne. Ich sehe die schwerwiegenden Folgen, die ein ausgeprägter Wettbewerb auf die Studierenden hat. Sie kommen an der Universität an, haben bereits eine stressige, angstgeprägte, vom Leistungsdenken dominierte Zeit an der Highschool hinter sich. Ich sehe, dass die Lage in Deutschland anders ist, aber in den Vereinigen Staaten sind die jungen Leute an Eliteuniversitäten so an das Leistungsstreben gewöhnt, dass sie es schwierig finden, mit dem nötigen Abstand darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Und es ist hart, sich dem Konkurrenzdenken zu entziehen: Die Tyrannei der Leistung verletzt somit nicht nur diejenigen, die nicht mithalten können, sie schadet auch denjenigen, die die Erwartungen erst mal erfüllen können.

SPIEGEL: Tyrannei ist ein starkes Wort.


»In einer so individualisierten Gesellschaft wie unserer ist es schwer, Solidarität zu entwickeln.«


Sandel: Es gibt auch Zahlen aus einer neueren Studie, die die seelische Gesundheit von 67 000 Studierenden an mehr als hundert amerikanischen Hochschulen erfasst hat. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass das enorme Stresslevel zu Depressionen und Angststörungen führt. Einer von fünf Studierenden berichtete von Suizidgedanken. Die Suizidrate bei jungen Leuten von 20 bis 24 Jahren stieg zwischen den Jahren 2000 und 2017 um 36 Prozent.

SPIEGEL: Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Wahltag am 3. November. Welche Aufgaben kommen auf die politische Klasse zu, wenn Trump oder wenn sein Herausforderer Joe Biden gewinnt?

Sandel: Wenn Trump gewinnt, wird es die Aufgabe der Politik sein, die demokratischen Normen und Institutionen gegen Trumps Angriffe zu verteidigen. Sollte Biden gewinnen, wird es die Aufgabe sein, die tiefe Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und herauszufinden, wie wir einen neuen Sinn für das Gemeinwohl erwecken können. Wir können aber die Spaltung nicht heilen, wenn wir die Ursachen für den Verlust des sozialen Zusammenhalts nicht verstehen. Deswegen möchte ich jetzt eine Diskussion über die Ursachen anregen und darüber, wie wir eine Politik des Allgemeinwohls etablieren können.

SPIEGEL: Die Ursachen verstehen, das ist das eine. Aber Solidarität und Gemeinsinn lassen sich politisch nicht so leicht verordnen, erst recht nicht Demut.

Sandel: Nun, Demut entsteht durch die Erfahrungen, die wir machen, dadurch, was Eltern ihren Kindern vorleben, und über die impliziten Lektionen, die Schulen über Erfolg erteilen. Werden vor allem kognitive Leistungen benotet, oder werden auch soziale Fähigkeiten kultiviert und belohnt? Und: Können wir öffentliche Räume erschaffen, in denen Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammenkommen, oder ziehen wir uns in unsere bewachten Zonen zurück? Bringen wir die Kinder selbst zur Schule, oder lassen wir sie Busse nehmen, wo sie auf Kinder anderer Schichten treffen? Und vor allem: Machen wir uns bewusst, dass wir vielleicht einfach auch Glück gehabt haben, wenn wir erfolgreich sind – durch unsere Familien und Lebensumstände?

 

SPIEGEL: Die Pandemie zeigt die Verletzlichkeit der Menschheit. Sehen Sie bei Ihren Studierenden Zeichen einer neuen Solidarität?

Sandel: In einer so individualistischen Gesellschaft wie unserer ist es schwer, Solidarität zu entwickeln, sonst hätten wir ja auch ein besseres Wohlfahrtssystem. Vielleicht gibt es kleine Anzeichen in die Richtung, die Sie benennen: Neulich fragte ich online eine Gruppe Studierende, ob sie während der Pandemie eher auf das Prinzip des Lockdowns oder eher auf das der Herdenimmunität wie etwa in Schweden setzen würde, wo die Regierung größere Ansteckungen riskierte, um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Erstaunlicherweise war eine überwältigende Mehrheit gegen die Herdenimmunität, mit dem Argument, dadurch würden die Schwächeren, die Alten und Vorerkrankten zu sehr gefährdet. Aber es ist zu früh, Schlüsse daraus zu ziehen. Für ein Solidaritätsgefühl müssten sich die Studierenden ja wenigstens treffen können. Aber sie sitzen überall verteilt auf der Welt an ihren Bildschirmen.

SPIEGEL: Professor Sandel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch